Künstliche Intelligenz - viel älter als der Hype
OpenAI löste mit dem Bot ChatGPT im November 2022 einen bisher nicht gekannten Medienhype und Investment-Boom für Künstliche Intelligenz aus. Derzeit soll es knapp 70.000 KI-Startups weltweit geben, jeder vierte davon sitzt in den USA. Den größten Zuwachs bei der Verbreitung von KI-Anwendungen gibt es allerdings in China.
Dabei war das Thema bei weitem nicht neu. Wie es kaum anders sein könnte, wurde KI zuerst in den USA seit den 1950er Jahren zum ernsthaften Forschungsobjekt. Der Begriff Artifical Intelligence wurde von den beiden Wissenschaftler John McCarthy und Marvin Minsk während einer Konferenz des Dartmouth College im Jahre 1956 in die Welt gesetzt. Auf ihr wurde auch ein Programm namens “Logic T" präsentiert, das die Problemlösungsfähigkeit des menschlichen Gehirns nachzuahmen versuchte. Das Geld dafür kam vom Think Tank und Forschungsinstitut RAND Corporation. Weitere frühe Meilensteine der Entwicklung sind die Programme General Problem Solver (GPS) und das bekanntere ELIZA aus den späten 50er bzw. frühen 60er Jahren. Zu dieser Zeit fing auch die amerikanische Regierungsagentur DARPA an, sich für KI zu interessieren. Ihren Aktivitäten ist auch die Entstehung des Internets zu verdanken, das anfänglich die Bezeichnung ARPANET trug. Den jüngsten "Big Splash" in Sachen KI unternahm die DARPA für das amerikanische Verteidigungsministerium. Im Jahre 2018 fasste sie rund 50 neue und bestehende KI-Programme in der sog. "AI Next"-Initiative zusammen, um sie für das Pentagon besser zu koordinieren und nutzbar zu machen. An ihr wirken das Militär, Universitäten und andere Forschungsinstitutionen sowie die private Wirtschaft mit. Das Beispiel DARPA macht eines der wichtigsten Erfolgsrezepte der USA für ihre Vorreiterrolle in der globalen IT deutlich. Es besteht aus der Verbindung zwischen US-Regierung, Wissenschaft und privater Wirtschaft. Aus ihr sind seit dem Zweiten Weltkrieg bedeutende Technologien hervorgegangen.
Da KI auf der Verarbeitung sehr großer Datenmengen basiert, waren Rechenpower und Datenspeicherung bis in die jüngere Zeit sowohl ökonomisch wie auch technisch echte Bremsen für ihre Verbreitung. Erst Cloud Computing, billige Datenspeicherung und die exponentiell wachsende Kapazität moderner Chips machen ihre massenhafte Adaption möglich.
Warum ist dieser kurze Rückblick in die Geschichte wichtig?
Junge Tiger und alte Drachen.
Die Antwort lautet: weil China die Methodik von den Amerikanern gelernt hat. Gut abgeguckt ist eben manchmal besser als schlecht selbst erfunden. Staat, Wissenschaft und private Unternehmen zu orchestrieren und sie in einem Verbund zielgerichtet zusammenarbeiten lassen, lautet auch die chinesische Zauberformel. Wir kennen sie schon von den E-Autos und der Solarindustrie. Doch in der IT geht man in Peking noch einen Schritt weiter. Es geht nicht mehr nur um die Förderung einzelner Industrien. Ein Online-Artikel vom 20. April 2024 der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua News Agency macht die Strategie deutlich: Die Regierung fördert die Konvergenz von Künstlicher Intelligenz, Telekommunikation, Big Data und Cloud Computing zu einer sektorübergreifenden, technologischen Plattform. Damit entsteht eine High-Tech Infrastruktur, die sich über verschiedene Industrien hinweg gemeinsam nutzen lässt "und die Entwicklung neuer, qualitativer Produktivkräfte" vorantreibt. Einen ähnlichen Ansatz treibt auch das chinesische Militär.
Vier neue "KI-Tiger" aus dem Reich der Mitte identifiziert die South China Morning Post in Ihrer Online-Ausgabe vom 19. April 2024: Baichuan, Zhipu AI, Moonshot AI und MiniMax. Sie ergänzen die vier alten "KI-Drachen" – SenseTime, Megvii, CloudWalk Technology und Yitu Technology – die sich hauptsächlich auf Gesichts- und Bilderkennung konzentrierten. Alle vier fanden sich 2019 bzw. 2020 auf einer amerikanischen Sanktionsliste wieder.
Baichuan, deren Gründer Wang Xiaochuan oben im Titelbild zu sehen ist, schaffte es im letzten Jahr mit seinem Team, schon 6 Monate nach der Firmengründung 300 Millionen US Dollar von heimischen Big Tech-Investoren wie Alibaba und staatsnahen Risikokapitalgebern einzusammeln. Damit stieg Baichuan – wie die anderen drei Tiger – in die Gruppe der aktuell weltweit 1.529 Einhörner auf. Der Investition war kurze Zeit vorher ein Angel Investment von 50 Millionen US Dollar des Gründers vorausgegangen. Der unbestätigte Gesamtwert des Startups soll bei 1,8 Milliarden liegen. In einer ähnlichen Größenordnung bewegen sich auch die anderen. So hat etwa Zhipu AI insgesamt 347 Million Dollar im Jahre 2023 von ebenfalls staatsnahen und privaten Investoren eingesammelt.
Aber auch die alten Drachen sind quicklebendig, wenn es um Technologie und Börsenbewertung geht. So gewann die SenseTime Aktie am 24. April 2024 an nur einem Tag über 30 Prozent an der Börse von Shanghai hinzu, nachdem Gerüchte über die neue Version ihrer generativen LLM SenseNova die Runde machten. Das Unternehmen erhebt den Anspruch, damit auf Augenhöhe mit ChatGPT 4 von OpenAI zu sein. Und nicht zu vergessen sind auch die ganz alten Drachen, wie etwa der chinesische Internetgigant Baidu.
Der Abstand zu Amerika wird zwar kleiner, aber...
Laut Einschätzung der renommierten Tsing Hua Universität in Peking sind die generativen KI-Modelle von Baidu (Ernie Bot 4.0) und Zhipu (GLM-4) die leistungsfähigsten Produkte dieser Art, die China aktuell zu bieten hat. Eine neuere Studie der Universität, bekannt als der SuperBench-Bericht, bewertet 14 repräsentative LLMs. Sie zeigt, dass Baidus Ernie Bot 4.0 und Zhipus GLM-4 erhebliche Fortschritte gemacht haben, um die Lücke zu den weltweit besten Modellen in Bezug auf ihre Gesamtleistung zu schließen. Insbesondere schnitten chinesische LLMs bei Aufgaben in chinesischer Textsprache besser ab, wobei Moonshots Kimi-Chatbot, Alibabas Tongyi Qianwen 2.1, GLM-4 und Ernie Bot 4.0 zu den Top vier in dieser Kategorie gehören. Interessanterweise erreichte OpenAIs GPT-4 jedoch weiterhin die erste Position auch in der chinesischen Textsprache. Zhou Hongyi, Gründer der Cybersicherheitsfirma 360 Security Technology und Branchenveteran mit engen Verbindungen zu den chinesischen Behörden, erklärte daher kürzlich auf einer Tech-Konferenz in Peking, dass China hinter der Standard von ChatGPT noch mindestens zwei bis drei Jahre zurück liege.
Tsing Huas Gesamturteil ist entsprechend eindeutig: Tiger und Drachen, alt oder jung, liegen in ihrer Performanz immer noch hinter der amerikanischen Konkurrenz wie OpenAI und Anthropics zurück. – Auch wenn der Abstand kleiner wird. Diese Situation wird sich auch wegen der besonderen Schwierigkeiten, mit denen die chinesischen Firmen aufgrund der amerikanischen Exportkontrollen kämpfen, zumindest auf absehbare Zeit nicht ändern. Wenig hilfreich ist zudem die ausgeprägte staatliche Internetzensur in China, die sich hinter dem Begriff "Great Firewall" verbirgt. Sie erfordert besondere "Vorsichtsmaßnahmen" bei der Filterung der riesigen Datenmengen, die aus dem Internet gefischt und von der KI verarbeitet werden. Leicht könnte sie sonst Ergebnisse produzieren, die der Zensur garnicht gefallen. Ein Artikel der South China Morning Post bringt es mit einem kleinen Beispiel auf den Punkt: Als der Redakteur den ChatBot von Baidu fragte, ob China eine demokratische Nation sein, war die Antwort: "Ich habe noch nicht gelernt, diese Frage zu beantworten”.
Europa muss sehr viel mehr tun
Die staatliche Orchestrierung und Unterstützung der IT in China und den USA – wie im vorliegenden Falle am Beispiel der KI ausgeführt – stellt für europäische Unternehmen einen massiven Wettbewerbsnachteil dar. Ohne diese Hilfe des Staates bleibt unser Kontinent stets auf einem Rang, der unserer Wirtschaftskraft nicht gemäß ist. Auf der weltweiten, stark IT-lastigen Unicornliste von Crunchbase findet sich nach Unternehmenswert (Post-Money Valuation) aktuell Celonis aus Deutschland als erstes EU-Unternehmen nur auf Platz 40. Natürlich ist der Wert eines Unternehmens nicht der einzige Maßstab. Er ergibt sich aber aus so entscheidenden Kriterien wie Umsatz, Wachstum, Kundenbasis, Technologie und auch den Zukunftserwartungen, die Investoren an es haben. Auf dem Gebiet der generativen KI sind derzeit nur zwei EU-Unternehmen auf vorderen Plätzen: Aleph Alpha aus Heidelberg und Mistral aus Paris. Beiden ist es immerhin gelungen, bisher mehr als eine halbe Milliarde Euro von Investoren einzusammeln.