Ein Gastbeitrag von Christoph Hugenschmidt, Zürich *
Interessanter Markt für Investoren
In den letzten fünf, sechs Jahren blieb in der Schweizer Software-Branche kein Stein auf dem anderen. Fast alle etablierten Hersteller von Standard-Software, typischerweise Business-Software, wurden verkauft und viele haben danach an Relevanz verloren. War das das Ende einer unabhängigen, kleinen aber hochprofitablen Branche? Keineswegs: Während die Gründergeneration der 80er und 90er Jahre abtritt, drängen neue Player mit neuen Ideen auf den Markt. Sie treffen auf Investoren, die nach "heissen" Startups suchen. Alleine 2023 wurden über 235 Finanzierungsdeals in Startups im IT-Umfeld registriert. 143 davon in Software und Analytics, 47 in Hardware und 45 in FinTech und InsurTech. Viele andere Startups, die anderen Branchen wie E-Commerce, Media, CleanTech zugeordnet werden, sind im Grunde genommen ebenfalls Software-Startups.
Germanen und Angelsachsen ante Portas
Viele der Investoren kommen aus der Schweiz selbst, Schweizer Firmen sind aber auch bei Investoren aus Deutschland und Großbritannien beliebt. Das war schon früher so. Am meisten Geld floss letztes Jahr in der Schweiz in den Healthcare-Sektor – angesichts der starken Pharmabranche (Roche, Novartis, Lonza, …) kann dies nicht erstaunen. Fintech- und InsurTech-Startups konnten am zweitmeisten Geld mobilisieren, nämlich fast eine Milliarde Franken (991 Mio.). FinTechs kombinieren typischerweise moderne Software-Plattformen mit alternativen Bankmodellen. So sammelte TP24, ein Startup, das mit ausstehenden Forderungen gesicherte Firmenkredite anbietet, letzten Juli 412 Millionen Franken ein. Ähnlich ist das Geschäftsmodell des Zürcher FinTechs Teylor. Teylor bietet Banken eine SaaS-Lösung für die Kreditvergabe, vergibt aber auch selbst Online Firmenkredite und bietet sich als Drehscheibe zwischen Kapitalgeber und Kreditnehmer an. Im Juni 2023 sammelte Teylor 275 Millionen Euro ein.
KI nicht erst seit dem ChatGPT Hype
Ende 2022 löste die Veröffentlichung einer neuen Version des Dialogroboters ChatGPT ein gewaltiges, weltweites Echo aus. Seither spricht gefühlt die ganze Welt pausenlos über Künstliche Intelligenz. In der Software-Branche begann der KI-Hype allerdings früher. So befassten sich schon 2018 über 16 Prozent der Startups in der Schweiz mit KI-Themen. Seit 2019 dann liegt der Anteil der KI-orientierten Startups bei über 20 % der neu gegründeten Firmen.
Der Fokus auf künstliche Intelligenz ist in der Schweiz relativ hoch, höher als zum Beispiel in den USA oder Grossbritannien. Allerdings sind die Risikokapitalisten in der Schweiz ausgesprochen vorsichtig und zurückhaltend, was die Größe der Investitionen betrifft. Hier dürfte die Kleinheit des Heimmarktes ein wichtiger Faktor sein. Bei der Größe der Investitionen liegt die Schweiz nicht nur weit hinter grossen Volkswirtschaften wie China, den USA oder Deutschland, sondern auch hinter Schweden und sowieso dem Startup-Star Israel.
Dass KI ein zentrales Thema in der Schweizer Startup-Szene geworden ist, zeigt auch ein Blick auf die "Top 100 Startups", eine Rangliste die jährlich von der Startup-Förderagentur Venturelab ermittelt wird. 27 der 100 ausgezeichneten Startups aller Branchen setzen nach eigenen Angaben KI und Machine Learning als Werkzeuge ein. Darunter sind so spannende Ventures wie ClearSpace. Die Firma mit Hauptsitz in einem Vorort von Lausanne entwickelt Roboter, die automatisiert "tote" Satelliten einfangen und entweder reparieren oder aus dem Verkehr ziehen. Ein anderes Beispiel ist urbio, ein Startup aus Sion (Wallis). Urbio verspricht eine Lösung für die KI-unterstützte Energieplanung von Gebäuden, Quartieren aber auch Städten.
Ballungen im Raum Zürich und Lausanne
Auffallend ist die geografische Verteilung der IT-Startups und auch der Finanzierungsrunden in der Schweiz. Im Raum Zürich gab es letztes Jahr 167 Finanzierungsrunden von ICT-Startups. Auf Platz zwei folgt der Kanton Waadt, wo mit der EPFL (École Polytechnique Fédérale de Lausanne) die zweite technische Hochschule mit Weltruf sitzt. Schweizweit wurden 3,56 Milliarden Franken investiert – in Deutschland, wirtschaftlich rund 10 mal grösser als die Schweiz, war es nur etwa doppelt so viel. Dass besonders viele Startups im Raum Zürich und in der Romandie (französischsprachige Schweiz) Geld anziehen, ist kein Zufall. Die beiden technischen Hochschulen, die ETH in Zürich und die EPFL in Lausanne, fördern Spinoffs seit Jahren intensiv.
Seit 1973 wurden 583 Jungfirmen mit dem Label "ETH-Spinoff" ausgezeichnet. Damit produziert die technische Universität mehr Startups als jede andere Universität in Europa, hiess es in der Wirtschaftszeitschrift Bilanz letzten Oktober. Seit 2011 finanziert die Technische Universität mit den so genannten Pionieer Fellowships mit 150’000 Franken die ersten Schritte ins Unternehmertum direkt. Zudem gibt es eine hochschuleigene Unternehmensberatung (ETH Juniors) und das Netzwerk ETH Entrepreneur Club. Beide sollen die Motivation, die Forschung in vermarktbare Produkte weiterzuentwickeln, befeuern. Die Liste der ETH Spinoffs seit 1973 bietet einen guten Einblick in die Entwicklung der Hightech-Industrie in der Schweiz.
Wo bleiben die Einhörner?
Die Schweizer Tech-Startup-Szene ist so lebendig wie noch nie. Aber es entstehen gerade im Vergleich zu den USA, Singapur oder Israel nur wenig Firmen mit weltweiter Ausstrahlung. Entsprechend sind die meisten Schweizer Startups nicht wirklich interessant für Investoren. So haben es von den 545 Startups aus der ETH-Szene nur vier an die Börse geschafft. Gleich zwei davon, nämlich Sensirion und u-blox wurden bereits 1998 gegründet.
Chancen auf dem Weltmarkt hat auch der spannende IT-Startup Beekeeper. Das Unternehmen bietet eine Plattform für die Kommunikation mit Mitarbeitenden, die keinen Büroarbeitsplatz haben. Beekeeper sicherte sich zuletzt 2022 eine Investition von 50 Millionen Dollar und will im laufenden Jahr operativ profitabel werden.
So weit so schön. Doch ein Blick auf die aktuelle Liste der "Top 100 Next Unicorns" ist deprimierend. Keinem einzigen Schweizer Startup wird aktuell zugetraut, einen Wert von einer Milliarde Dollar zu erreichen. Aus vergleichbar kleinen Ländern wie Österreich, Dänemark, Finland, Ungarn und Irland ist mindestens ein Kandidat aufgeführt. Aus den nur doppelt so grossen Niederlanden sind es neun.
Die Ursachen dafür sind oft diskutiert und eigentlich bekannt. Der winzige Heimmarkt (die deutschsprachige Schweiz hat nur gerade gerade 5,5 Millionen Einwohner:innen), eine gewisse Technologie-Verliebtheit und eine Art selbst auferlegte Bescheidenheit. Ob aus der Schweizer Tech-Startup-Szene je wieder ein Weltkonzern wie etwa ABB entstehen wird?
* Der Autor
Christoph Hugenschmidt ist Mitgründer des Online-Branchenblatts Inside IT und gern gesehener Gast auf diesem Blog. Heute ist er Freelance-Journalist und Autor des Buches "Inside Abacus und die verrückte Geschichte der Schweizer IT-Branche." Verlag Hier und Jetzt.