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35 Jahre WWW – Die Realität ist besser als die Vision

Ökonomischer Urknall

Am 12. März wurde das World Wide Web 35 Jahre alt. Das Datum markiert den Tag, an dem sein Erfinder, der britische Informatiker Tim Berners-Lee, am CERN in Genf seinem Chef ein Papier mit dem bescheidenen Titel "Information Management: A Proposal" vorlegte. Es ging darin um die Frage, wie man in der riesigen elektronischen Dokumentation des CERN mit Hilfe einer Software am besten Informationen findet, ohne wissen zu müssen, welcher Abteilung sie gehören, auf welchem Rechner, in welcher Datenbank oder in welchem Ordner sie liegen. Mit einer solchen Lösung konnte man Informationen auch leicht an Dritte weitergeben. Statt einer hierarchischen Ordnung von Informationen schlug Tim eine Art Spinnennetz vor. Die Grundzüge des World Wide Web sind darin schon sehr deutlich erkennbar.

Tims Konzept nutzte eine seit Anfang der 1960er Jahre vorhandene Technik namens Hypertext. Mit ihrer Hilfe kann man von einem markierten Text in einem Dokument gezielt zu Texten in anderen Dokumenten "springen". Daher der Name "Hypertext Markup Language", die zur Programmierung im Web genutzt wird. Dass damit der Grundstein des World Wide Web gelegt wurde, hat damals niemand geahnt. Tims Erfindung hat das Internet zu einer sehr wichtigen Grundlage unserer modernen Wirtschaft gemacht. Ohne das WWW gäbe es heute wahrscheinlich keine Google, keine Amazon, kein Facebook, keine chinesische Baidu, keine japanische Line, keine Plattformökonomie überhaupt. Und unser Sozialverhalten wäre in manchen seiner Züge auch noch ein anderes – was nicht zwangsläufig nachteilig wäre. Wer weiß ob das iPhone 2007 mit all seinen Web-Diensten je das Licht der Welt erblickt und unser tägliches Leben so sehr verändert hätte. Auch Apple wäre in diesem Falle ein ganz andere Firma. Industrielle Automatisierung und der Austausch in der Wissenschaft und in Sozialen Netzwerken würden zumindest anders funktionieren, wenn sie denn in ihrer heutigen Form existieren würden. Selbst die Geopolitik ist vom Web beeinflusst. In meinem Buch Zeitenwende. – Wie die IT unser Leben verändert habe ich diese Vorgänge ausführlich dargestellt.

Was von Tim anfänglich als Lösung eines partikularen Dokumenten Management-Problems gedacht war, entwickelte sich in der folgenden Dekade neben Email, File Transfer (FTP) und etwa Telnet (Remote Terminal Zugriff) zu der dominierenden Anwendung des Internets. – Und zwar so sehr, dass die meisten Menschen das World Wide Web und das Internet miteinander gleichsetzen. Der Mann am CERN hatte einen Urknall ausgelöst, der in wenigen Jahren die Welt so schnell verändert hat wie keine andere Technologie. 

Bild erstellt mit MS Designer

Vision versus Realität

Tim Berners-Lee veröffentlichte den Code seiner Anwendung im August 1991. Es ist sehr bemerkenswert, dass weder das CERN noch Tim für die Nutzung der Software Geld verlangten, sondern sie lizenzfrei der Allgemeinheit zur Verfügung stellten. Solchen Idealismus gibt es in der IT immer wieder, man denke etwa an Wikipedia. Berners-Lee hat damit mit hoher Wahrscheinlichkeit Hunderte Millionen Dollar auf dem Tisch liegen lassen. Er folgte seinem Traum von einer freien, öffentlichen Infrastruktur zum globalen und unbeschränkten Austausch von Informationen. Im Vorwort zu Tims Buch „Weaving the Web“ schreibt Michael Dertouzos, damals Direktor des Computer Sciences Lab am MIT in Cambridge: „Als Technologen und Unternehmer Firmen gründeten und fusionierten, um das Web zu nutzen, schienen sie auf die Frage fixiert zu sein: Wie kann ich das Web zu meinem machen?‘ Währenddessen fragte Tim: ‚Wie kann ich das Web zu deinem machen?"

In einem offenen Brief vom 12. März 2024 beklagt Tim – nicht ohne eine Spur von Bitterkeit – die Entwicklung des WWW seit dem Beginn unseres Milleniums. Zusammenarbeit zu ermöglichen, Mitgefühl zu fördern und Kreativität zu generieren sei die ursprüngliche Intention gewesen. Es sollte ein Werkzeug sein, um die Menschheit zu stärken. In den 1990er Jahren habe es dieses "Versprechen" noch eingehalten. Danach sei alles anders geworden, wie dieser Auszug aus seinem Brief beschreibt:

Der gesamte Brief von Tim Berners-Lee auf Medium.com: bit.ly/49SbZrd

Der Autor übersieht dabei, dass es heute ohne Kommerzialisierung des Webs weder den sehr hohen Grad an Partizipation an ihm geben würde, der den größten Teil der Menschheit umfasst, noch die Investitionen, die seinen freien Zugang ermöglicht haben. Wer sollte all die Rechenzentren bezahlen, die etwa eine Google Websuche ermöglichen? Wer würde in seine Infrastruktur investieren, wie etwa den Glasfaser-Backbone, der es über Kontinente hinweg zusammenführt und der einen weltweiten Austausch für alle ermöglicht? Die Verteilung und damit der Zugang zu Wissen und seine einhergehende Demokratisierung suchen in der Menschheitsgeschichte ihres Gleichen. Dasselbe gilt für den wissenschaftlichen Austausch oder etwa die Globalisierung der Wirtschaft. Und wenn z.B. staatliche Organisationen sich darum gekümmert hätten, wäre das Ergebnis sicher nicht das, welches der Autor des Briefes sich wünscht. Dafür gibt es aktuell zahlreiche Beweise, die von Chinas "Great Firewall" bis zu den vielen, zunehmenden Shutdowns des Webs in den letzten Jahren reichen. Hinzu kommen Skandale, wie in der Schweiz oder den USA, welche die Eingriffe von Geheimdiensten in die Privatsphäre ihrer Bürger deutlich gemacht haben. Das Web steht insgesamt für Freiheit, in einem Ausmaß, wie es sie vorher nicht gab und wie sie am besten durch private Investitionen gesichert werden kann. Private Investoren sind jedenfalls ein deutlich besserer Garant für Vielfalt als von politischen Interessen geleitete, staatliche Organisationen und Gruppen von Idealisten, denen das Geld fehlt.

Auf dem Weg zur friedlichen Koexistenz

Zweifellos weißt Tim in seinem Brief auf tatsächliche Missstände hin. Die ökonomische und politische Macht einzelner Plattformen, deren Verfügungsgewalt über die Daten ihrer Nutzer und die politische Macht, die damit einhergeht, können nicht ohne Regulierung bleiben.

Bild von Václav Závada auf Pixabay

Gleiches gilt etwa auch für KI und andere, neue Technologien und deren Einsatz im Web. Diese Regulierung ist aber – insbesondere in der EU – auf dem Wege. Der Digital Services Act (DSA) und Digital Markets Act (DMA) zur Moderierung von Inhalten und des Wettbewerbes im Netz sind gute Beispiele dafür. Am 8. März 2024 hat das Europäische Parlament die Verordnung über künstliche Intelligenz (KI-Verordnung) verabschiedet. Sie ist das erste umfassende Gesetz zur Regulierung von KI auf der Welt und verfolgt mit seiner Risikoeinstufung nach Anwendungsfällen einen praxisnahen und sinnvollen Ansatz. In den USA haben vor allem die Bundesstaaten die Vorreiter gemacht, wie z.B. in Kalifornien, Colorado und Connecticut. Auf Bundesebene gibt es noch Nachholbedarf.

Das Kind mit dem Bade auszuschütten und eine idealisierte Vorzeit (sprich die 1990er Jahre) als Maßstab zu nehmen ist ebenso praxisfern wie unrealistisch. Es gibt keinen Rollback des Webs. Es ist kaum anzunehmen, dass die Milliarden Nutzer im Web den bisherigen Status gerne aufgeben würden. Die deutlich bessere Alternative ist es daher, den Konsumenten die Wahl zu überlassen. Am Ende könnte so ein Netz stehen, das ihnen die Alternative zwischen "Big Corporate-Plattformen" und einem dezentralisierten Web 3.0 bietet. Der Zwang zu ideologisch getriebenen Alternativen ist in der Regel kontraproduktiv. Tatsächlich gibt es auch heute schon Initiativen, die dezentralisierte Webstrukturen zum Ziel haben und nicht dem Einfluss von Staaten oder großen Firmen unterliegen. Gute Beispiel dafür sind Solid (Datenablage) und Blockstacks (Identity System). Die Welt ist bunt, nicht schwarz und weiß.

Das Titel Foto zeigt Tim Berners-Lee. Quelle: Flickr.

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