KI-induzierter Müßigang?
Die Älteren unter uns kennen das noch: Wer vor Februar 2005, dem Verfügbarkeitsdatum von Google Maps, auf unbekanntem Terrain mit dem Auto unterwegs war, machte in der Regel noch den Versuch, sich anhand einer Karte zu orientieren. Bis dahin konnte ich – als ehemaliger "Erkunder" der Bundeswehr – noch auf dem Beifahrersitz mit meinen Orientierungsfähigkeiten glänzen. Das war dann rasch vorbei. Google Maps konnte das nicht nur schneller und zuverlässiger als ich, sondern lieferte auch noch eine Menge weiterer Informationen, die ich nicht hatte. Heute fällt es mir deutlich schwerer, Karten effizient zu nutzen. Wer seine Fähigkeiten nicht mehr einsetzt treibt zurück, es ist wie rudern gegen den Strom.
Solange es dabei nur um das Lesen von Karten geht, ist dieser Prozess noch gut zu verschmerzen. Kritischer wird es, wenn wir technikbedingt aufhören, unsere Kreativität zu entwickeln oder das Denken immer mehr an eine CPU delegieren. Diese Neigung beobachte ich sowohl bei mir selbst wie auch bei meiner Umgebung. Es ist viel bequemer, Gemini und MS Copilot für einen Textentwurf oder Ideen für eine Präsentation zu prompten. Mathematische Aufgaben sind ebenfalls leicht zu lösen. Math Solver hilft, wenn es bei einer Aufgabe eng wird – und gerne auch mal ohne dass ich es selbst überhaupt versucht habe. The Decision Maker trifft private oder geschäftliche Entscheidungen für mich, ohne dass ich selbst über mein Problem nachdenken muss. Originalzitat: "In a dilemma? I am here for you." Wer auf Poe durch die endlos lange Liste der kleinen, smarten KI-Helferlein für alle Lebenslagen scrollt, sieht was ich meine.
Historische Analogien
Aus naheliegenden Gründen gibt es derzeit noch keine wissenschaftlichen Langzeituntersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen dem Verlust an Kreativität und kognitiven Fähigkeiten und der breiten Nutzung von KI belegen. Dennoch sagt mir der gesunde Menschenverstand, dass er durchaus bestehen kann.
Technische Innovationen werden oft reflexartig mit Skepsis oder Ablehnung begleitet. Wo sie entstehen, sind die modernen Kassandras nicht weit. Das war so bei der Erfindung des Autos, der Eisenbahn oder dem Computer. Diese Skepsis ist im Großen wie im Kleinen zu beobachten. Als Anfang der 1970er Jahre Firmen wie Canon, Texas Instruments und Sharp die ersten Taschenrechner auf den Markt brachten und diese etwas später in Schulen eingeführt wurden, erzeugte das heiße Diskussionen. Würden die kleinen Geräte zum Verlust mathematischer Fähigkeiten bei Kindern führen, weil sie nun nicht mehr mit Bleistift und Papier Aufgaben selbst lösen müssen, sondern einfach per Knopfdruck?
Inzwischen wissen wir, dass genau das Gegenteil eintrat. Taschenrechner erlaubten immer komplexere Fragestellungen und die Behandlung von mathematischen Konzepten im Unterricht, wie sie sonst nicht möglich gewesen wären. Auch der naturwissenschaftliche Unterricht profitierte in ähnlicher Weise von ihnen, das Niveau der Inhalte stieg an, statt – wie befürchtet – zu sinken. Der Umgang mit Taschenrechnern stellte eine neue didaktische Aufgabe dar. War sie erstmal gelöst, war der Weg frei für weiterführende Erkenntnisse.
Gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Die Analogie zum Taschenrechner mag auf den ersten Blick unpassend erscheinen. KI ist eine Innovation, deren Potenzial für unsere Zukunft nicht unterschätzt werden kann und ihre rasend schnelle Ausbreitung in alle Lebensbereiche sprengt Alles, was wir bisher in der IT erlebt haben. IT mutiert derzeit zu KI. Es macht also Sinn, sich den Warnungen der Kassandras nicht zu verschließen. Immerhin hatte ihre mythologische Vorgängerin mit ihren Warnungen ja auch Recht behalten und Troja ging unter.
Wo die Analogie vollständig passt und vorbildlich sein kann, ist die Art und Weise, wie wir mit den kleinen Rechnern umgegangen sind. Wir haben unseren Kindern beigebracht, sie zu meistern, statt – wie von einigen anfangs suggeriert – ihre Nutzung generell zu begrenzen oder gar zu verbieten. Im Ergebnis sind die Kids damit schlauer, nicht dümmer, geworden, sie konnten auf das nächste Level von Lerninhalten klettern. Super-Mario wäre stolz auf sie.
Die weitreichenden Konsequenzen des Einsatzes von KI machen den Umgang mit ihr allerdings nicht nur zu einer schulischen, sondern zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe. Das umfasst zum Beispiel regulatorische Aufgaben, bei denen es nicht nur um Datenschutz und Persönlichkeitsrechte geht, sondern auch um die Risikopotenziale unterschiedlicher Anwendungsfälle. Genau das hat die EU mit ihrem "AI Act" im Mai 2024 gut geregelt. Nicht jeder KI-Einsatz birgt die gleichen Risiken und Chancen und Unternehmen brauchen Raum, um die Technik sinnvoll einsetzen zu können. Ähnlich wie bei den Taschenrechnern werden auch die Schulen ihren Anteil leisten müssen. Den Lehrplänen steht ein bedeutsamer Upgrade bevor.
"Restrisiko" Bequemlichkeit
Bezogen auf die "Verdummung" durch KI geht das größte Risiko von uns selbst aus. Wir müssen lernen, dass KI ein Werkzeug ist, das nur eine der möglichen Antworten auf unsere Fragen liefert. Sie ist subsidiär zu unserem Verstand zu gebrauchen und somit ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Erkenntnis und Effizienzsteigerung. Wir müssen lernen, dass sie nicht objektiv ist, dass ihre Antworten oft intransparent und damit nicht nachvollziehbar sind und gelegentlich schlicht falsch. Jeder kann das im einfachen Selbstversuch nachvollziehen. Dafür reicht manchmal schon, dass man mehrere KI-Engines mit der gleichen Frage füttert und die Antworten dann vergleicht. Wer bequem ist und die Ergebnisse unkritisch rezipiert, macht sich in dieser Hinsicht dumm. Aber gilt das Gleiche nicht etwa auch für den Konsum von "meinungsbildenden" TV-Sendungen oder Social Media-Inhalten? Am Ende liegt die Verantwortung für uns bei uns. Gut so, das macht nicht dumm, sondern frei!